Sicherlich spürst auch du die Anspannung, Aufregung und Herausforderung dieser Zeit: Corona-Lockdown und die sehr unterschiedlichen Ansichten und Überzeugungen dazu, emotionale Demonstrationen und der zunehmend aggressive Ton in Sozialen Medien. In den USA ist die Spaltung quer durch die Gesellschaft und die Familien noch drastischer zu beobachten. Wenn wir vielleicht meinen, mit all dem nichts zu tun zu haben, irren wir uns: Jede*r von uns hat auch ganz individuell mit Spaltung und Zwietracht zu tun. Fangen wir also bei uns selbst an.
Alle von uns kennen die Zweifel und Uneinigkeit unserer Gedanken: „einerseits-andererseits“, „ja, aber...“, „Soll ich lieber dies oder jenes …?“ Oder unser Körper und Gefühl sagen uns „Ruh' dich aus.“, doch unser Verstand sagt: „Das kannst du dir jetzt nicht erlauben!“ oder ähnliches. Auch die Schwierigkeit, damit umzugehen, wenn andere Menschen nicht derselben Meinung sind wie wir, kennen wir sicher alle. Wie schnell entstehen Streit, Zwietracht oder gar Spaltung und Kontaktabbruch. Denn wenn wir davon überzeugt sind, dass unsere jeweilige Sicht der Dinge die Richtige ist, fangen wir oft an, auf unser Recht zu pochen. Die Folge ist ein Schlagabtausch von Argumenten.
Spaltung unter Menschen
Besonders von nahestehenden Menschen, z.B. unseren Partner*innen, Freund*innen oder Geschwistern, wünschen wir uns, dass sie die gleichen - oder zumindest ähnliche - Meinungen vertreten wie wir. Viele sind dann sehr enttäuscht oder gar verletzt, wenn die anderen eine andere Haltung zu einem Ereignis einnehmen. Doch jede*r hat ihre/seine eigene Wirklichkeit, die auf den eigenen Erfahrungen, Überzeugungen, Bewertungen basiert - es gibt keine allgemeingültige Realität.
Für uns alle bedeutet dies, anzuerkennen, dass jede*r von uns ihre/seine ureigene, zutiefst individuelle Wahrnehmung hat auf das, was sie/er erlebt und erfährt. Dieselbe Sache, dasselbe Ereignis, z.B. ein gemeinsamer Urlaub mit der Freundin, wird von jeder ganz anders erlebt und erfahren! Das weiß eigentlich jede*r von uns, doch wir haben noch nicht wirklich gelernt, es „auszuhalten“ und damit konstruktiv umzugehen.
- Wie geht es dir mit anderen, besonders dir nahestehenden Menschen - wie gehst du mit euren unterschiedlichen Erinnerungen, Wahrnehmungen, Ansichten, Überzeugungen um?
- Kämpfst du ums Rechthaben?
- Oder versuchst du, auch die Sicht der anderen zu sehen und zu verstehen?
- Inwieweit gelingt es dir, unterschiedliche Meinungen nebeneinander stehen zu lassen oder gar Brücken zu bauen?
Wie du anfangen kannst, Brücken zu bauen
„Realitätsinseln“ erkennen
Wichtig ist es, zu verstehen, dass wir die Realität auf unterschiedlichste Weise wahrnehmen, filtern, abscannen, erfahren und erleben. Jede*r lebt sozusagen auf ihrer/seiner Realitätsinsel.
Loslösung von Erwartungen
Ich kann und darf überprüfen, welche Erwartungen ich eigentlich habe. Bei Erwartungen habe ich ein bestimmtes Bild vom anderen, wie sie/er zu sein hat. Wenn sie/er diese nicht erfüllt, bin ich womöglich enttäuscht und auf die/den andere*n sauer. Doch ich habe mich selbst mit dieser Erwartungshaltung getäuscht - ich hatte eine Täuschung und wurde nun ent-täuscht. Kannst du dir vorstellen, anzufangen und damit zu experimentieren, dich von deinen Erwartungen zu lösen und dich überraschen zu lassen?!
Hinhören
Andere Standpunkte und Sichtweisen brauchen wir nicht als Angriff zu sehen, denn wenn jemand ganz anders denkt als du, ist er/sie nicht gleich dein*e Feind*in! Stattdessen können wir erst einmal genau hinhören und lauschen, was die/der andere aus ihrer/seiner Welt zu berichten hat, mit einer Haltung wie: „Ach so erlebst du es!“
Perspektiven erweitern
Meistens gibt es mehr als nur die zwei Seiten von „entweder - oder“, „schwarz oder weiß“, „richtig oder falsch“, was unwillkürlich zu einer Spaltung führen kann. Versuche deinen Blickwinkel zu erweitern - es könnte auch ein „sowohl als auch“, „keins von beiden“ oder sogar „etwas ganz anderes“ geben!
Brücken bauen
Eine Brücke muss nicht gleich – wie aus Beton – feststehen; es darf auch zunächst eine vorläufige Behelfs- oder Hängebrücke sein.
Wie wäre es, erst einmal die unterschiedlichen Sichtweisen nebeneinander stehenzulassen und zu akzeptieren, dass andere Menschen in deinem Umfeld etwas ganz anders erleben als du? Also das Erleben und die Ansicht der/des anderen wahrzunehmen, zu akzeptieren und zu würdigen: „Ja, ich sehe dich. Ich sehe deine Haltung dazu und respektiere sie.“ Dies entspannt meistens schon einmal die Beziehung und kann ein erster Schritt in Richtung Verständigung und Versöhnung sein.
Fritz Perls, Begründer der Gestalttherapie, verdeutlicht diese Haltung sehr schön im folgenden Text:
„Ich bin ich.
Du bist du.
Ich bin nicht auf dieser Welt, um deine Erwartungen zu erfüllen.
Du bist nicht auf dieser Welt, um meine zu erfüllen.
Du bist du.
Ich bin ich.
Wenn wir uns in irgendeinem Moment oder irgendeinem Punkt treffen,
wird es wunderbar sein.
Wenn nicht, kann es nicht verhindert werden.
Mir fehlt es an Liebe mir selbst gegenüber, wenn ich mich in dem Versuch,
dir zu gefallen, betrüge.
Mir fehlt es an Liebe für dich, wenn ich versuche zu erreichen, dass du wirst,
wie ich es will, anstatt dich so zu akzeptieren, wie du wirklich bist.
Du bist du und ich bin ich.“
In diesem Sinne wünsche ich dir für diesen besonderen Winter eine friedvolle Zeit,
liebe Grüße
Cordula